Utopie, Radikalität und Kompromisse

19. Oktober 2022 - Christian Saris - Lesezeit: 5 min.

gedanken gruene politics

Es ist 2022. Die Grünen sind nun in mehreren Bundesländern in der Regierungsverantwortung, so auch in NRW. Die Ampel regiert auf Bundesebene. In den Wahlkämpfen haben wir Grüne uns ganz klar als eine Partei erwiesen, der gerade in Sachen Klima- und Umweltschutz viel zugetraut wird. Wir wurden auch von Menschen gewählt, die uns bis dato noch nicht gewählt hatten.

Die Grünen waren und sind eine Bündnispartei. Das heißt, dass sich viele von uns neben der Parteiarbeit auch - teilweise sogar hauptsächlich - in politischen Bündnissen und Vereinen engagieren. Ob das nun NABU ist, Fridays For Future, Seebrücke oder andere.

Mit einer Regierungsverantwortung kommen bisweilen unangenehme Entscheidungen auf die Partei zu. Ganz klar, dass grüne Politik in einer Koalition mit der CDU schwer übereinzubringen ist. Wenn man aber die Möglichkeit hat, wesentliche Punkte seiner Agenda in einer doch so ungeliebten Koalition durchzusetzen, dann heißt es manchmal: Kompromisse eingehen, auch wenn es dann „Kröten schlucken“ bedeutet.

Genau das mussten die Grünen in NRW aber auch auf Bundesebene tun. Durch den russischen Angriffskrieg kamen eine Menge an unvorhersehbaren Problemen mit unangenehmen Entscheidungen hinzu. Ob nun das Sondervermögen der Bundeswehr im Bund oder die Entscheidungen um Lützerath und den Streckbetrieb der Atomkraftwerke. Es sind bittere Pillen, die geschluckt wurden, jedoch immer auch im Gegenzug politische Gestaltung und Verwirklichung eigener politischer Ziele.

Es ist mehr als verständlich, dass Menschen, die die Grünen gewählt haben - so auch ich - mit der ein oder anderen Entscheidung nicht zufrieden sind. Es ist auch natürlich nachvollziehbar, dass man sich über diese Entscheidungen ärgert. In sozialen Medien wird alles natürlich ganz besonders hoch gekocht. Dort werden unter dem Deckmantel der Anonymität die hitzigsten Tiraden abgelassen. Wie gesagt, ich verstehe die Enttäuschungen.

Wenn man aber liest, wie sich dort Leute dafür einsetzen, Mitglieder der Grünen nun aus Bündnissen wie FFF auszuschließen, merkt man, welch „lupenreine Demokrat*innen“ da unterwegs sind.

Wenn ich so etwas lese, frage ich mich, wie viele der lauten Polterer gegen die Grünen in ihrem persönlichen politischen Handeln jemals Kompromisse eingegangen sind.

Ich habe den Eindruck, dass Utopismus und Radikalität, die in bestimmten politischen Prozessen durchaus wichtig und notwendig sind, in manchen Kreisen dermaßen zu einer Tugend idealisiert werden, dass sie gleichsam zum einzigen Abwägungsprinzip im politischen Denken und Handeln werden.

Kann man natürlich so machen. Die Strategie, im eigenen Wirkungskreis Ideale radikal und utopistisch durchzusetzen und diesen Kreis möglichst weit auszudehnen, kann effektiv und nachhaltig Verhältnisse ändern. Man darf lediglich nicht vergessen, dass es auch noch eine Welt außerhalb dieses Wirkungskreises gibt, zu dem man in einer demokratischen Gesellschaft verpflichtet ist, anschlussfähig zu bleiben. Und dazu braucht man Kompromisse.

Wenn man die nicht eingeht, werden die ethischen roten, nicht zu überscheitenden Linien so immer enger um den eigenen Wertekodex gesetzt.

Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen aus diesen utopistischen Kreisen keine Kompromisse mehr verstehen und auch nicht mehr verstehen wollen. Ihre roten Linien umschreiben einen Kreis, der nur ihren eigenen Wertekodex umspannt.

Das alleine finde ich schon eine besorgniserregende Entwicklung. Leute hingegen ausschließen zu wollen, die Kompromisse eingehen oder einer Partei angehören, die Kompromisse eingeht… eine Person, die so etwas fordert, zeigt, dass es ihr nicht um konstruktives politisches Handeln im Rahmen demokratischer Prozesse geht, sondern um Selbstprofilierung und pubertären Distinktionsquatsch, der ganz klar mit Demokratie nichts gemein hat.